Samstag, 26. Januar 2008

Tjark Kunstreich: Gesellschaftlicher Zerfallszustand - Zu Tamara Milosevics Film „Zur falschen Zeit am falschen Ort“

Tjark Kunstreich hat uns freundlicherweise den Text seines am 17.1. gehaltenen Referates zur Verfügung gestellt. Hier das Ganze zum Nachlesen:


Gesellschaftlicher Zerfallszustand

Zu Tamara Milosevics Film „Zur falschen Zeit am falschen Ort“

Jedes Mal aufs Neue, wenn in einem ostdeutschen Kaff ein oder mehrere Ausländer oder Außenseiter gejagt, verletzt, mit dem Tode bedroht oder getötet werden, führen örtliche Antifa-Gruppen das immergleiche Ritual auf. Die regionalen so genannten „Nazi-Strukturen“ werden benannt, der ein oder andere Schläger öffentlich denunziert, die Bevölkerung für ihr (angebliches) „Wegschauen“ getadelt. Wo es nach einem rassistischen Überfall keine Nazis gibt, wie z.B. nach einem rassistischen Übergriff in Pömmelte in diesem Bundesland im Januar 2005, verlegt man den Protest eben dahin, wo man sie zu finden meint. Dass diese Gruppen damit die ihnen zugewiesene Rolle übernehmen, indem sie die Bevölkerung entlasten, die zuletzt in Mügeln zeigte, dass im Moment des Pogroms Nazis, Punks und Volksfestdeutsche zu einem Mob verschmelzen, und einen konkreten Gegner – die Nazis – aufzeigen, wäre noch nicht das Schlimmste daran, vorausgesetzt, man übernähme die Aufgabe, „Staats-Antifa“ dort zu sein, wo der Staat erst zum Handeln gezwungen werden muss, aus bewusster Entscheidung.

Doch genauso, wie die Suche nach der Staatsgewalt im Osten immer dann erfolglos bleibt, wenn ihr Einschreiten notwendig wäre, ist Antifa-Recherche über „Nazi-Strukturen“ und „rechtsextreme Alltagskultur“ in der Ex-DDR zu einer traurigen Veranstaltung mit dem einzigen Zweck verkommen, von den Nazis zu reden, um über den gesellschaftlichen Zustand, oder besser: Zerfall in weiten Teilen der Zone zu schweigen. Die pedantische Aufzählung jeder faschistischen Aktivität ist der hilflose Versuch, in einem gesellschaftlichen Vakuum überhaupt noch so etwas wie „Strukturen“ auszumachen. In den Untiefen des ostdeutschen Biotops herrscht die Anarchie der Volksgemeinschaft, so dass von Subjekten – mithin von Tätern – nicht wirklich die Rede mehr sein kann; die Gewalt ist das Verdauungsgeräusch des Volkskörpers. Die jungen Täter sind Vollstrecker eines Auftrags, wie unbewusst auch immer dieser erteilt worden sein mag; um politische Überzeugungen geht es nur am Rande. Denn das „Wir“ der Ostdeutschen zwischen PDS und „Freien Kameradschaften“ weiß sich sicher: „Wir sind Opfer.“ Darin bestärkt zu werden, wünscht sich dieses „Wir“. Keine andere politische Botschaft wird gehört außer der Beschwörung des ostdeutschen Opferkollektivs – und sei es als Opfer der Nazis.

Um einen Fall, der heraus sticht und dieser Logik nicht zu folgen scheint, geht es heute Abend. Am 16. November 2002 wird die Leiche des 16jährigen Marinus Schöbel in der Jauchegrube nahe einem Schweinestall der ehemaligen LPG im brandenburgischen Potzlow gefunden. Der Junge war seit Juli verschwunden. Nun gräbt ihn sein bester Freund Matthias aus, nachdem er einen Hinweis erhalten hat. Er geht zur Polizei. So fängt eine Geschichte an, die seitdem zu zahlreichen Interpretationen Anlass gegeben hat. Die Voraussetzung für die un¬ter¬schiedlichen Erklärungsansätze war aber immer dieselbe: die Tat als einen Akt der Verrohung zu begreifen und die Frage nach dem Warum zu stellen, um sich auf Motivsuche zu begeben. Der Jugendliche wurde von Kumpels umgebracht. Sie hatten ihn an einem Abend Mitte Juli 2002 wegen seiner blondierten Haare und der weiten Hosen zum „Juden“ erklärt und ihn gezwungen, in den Rand eines Schwei¬netrogs zu beißen – die ländliche Version des Bordstein-Kicks.

Sie traten gegen seinen Hinterkopf, bis der Kiefer brach. Hinterher schlug einer der Täter dem noch lebenden Opfer so lange mit einem Stein auf den Kopf, bis es augenscheinlich tot war. Erst vier Monate später wurde die Leiche gefunden, nachdem einer der Täter sich mit der Tat gebrüstet hatte. Die Täter waren Nazis, einer von ihnen war vorbestraft. Die Brutalität des Mordes kontrastierte schon damals wie auch später während des Prozesses mit der Abgeklärtheit der Lokalpolitiker und Bewohner dieses Landstrichs im Norden Brandenburgs, der einstmals ein agra¬risches Zentrum der DDR war.

Die Einwohner von Potzlow taten, als sei eine solche Situation Alltag. So beinahe logisch sich Vor- und Ablauf der Tat erklären lassen, eine Motivation im eigentlichen Sinne bleibt nach wie vor im Dunkeln. Eine andere Frage ist, wozu das Nachvollziehen der Motive überhaupt gut ist. Zum einen besteht die Gefahr, sich die Aussagen der Täter zu eigen und ein ganz allgemeines Elend für eine sehr konkrete Tat verantwortlich zu machen. Die Suche nach Motiven der Täter lenkt zum anderen vom Opfer ab und rationalisiert den Skandal der Grausamkeit und Sinnlosigkeit, die solchen Ta¬ten innewohnen.

Wie kann man sich also dieser Geschichte nähern, ohne den barbarischen Charakter der Tat zu verdrängen? Nicht wenige der Erklärungsversuche sind in Wahrheit Mystifikationen der Tat; etwa wenn unterschlagen wird, wie es vielfach geschehen ist, dass Ma¬rinus Schöbel, um ihn zum Opfer zu machen, als „Jude“ bezeichnet worden war. Dann wird die Tat wirklich zu einem Geheimnis. Allerdings erklärt diese Etikettierung längst nicht alles. Das Wissen darüber, dass „Jude“ und „Opfer“ synonym benutzt werden und neben „Schwuler“ in bestimmten, vor allem jugendlichen Milieus zu den beliebtesten Pejorativen gehören, hilft da ebenfalls nicht sehr viel weiter. Eine Analyse des Berliner „Zentrums für Antisemitismusforschung“ ergab 2004 zudem, dass weder spezifisch ostdeutsche Mangelzustände noch Rassismus geltend gemacht werden könnten: dennoch ist Marinus tot, er wurde auf bestialische Weise ermordet. Die Tat erweckt einen allzu beliebigen Eindruck, als dass blondierte Haare und weite Hosen oder die Bezeichnung „Jude“ oder sonst irgendein Indiz Aufschluss geben könnten. Eine Ermittlung muss also andere Wege gehen.

Unter den zahlreichen Versuchen, das Geschehen zu verstehen, ist der prominenteste wohl „Der Kick“ von Andres Veiel, eine dramatische Bearbeitung dokumentarischen Materials. Veiel, der sich in seiner Arbeit mit Geschichtstraumen der Gegenwart befasst, will „ein Lehrstück über Gewalt“ verfasst haben, das nun, um einen Anhang erweitert, als Buch erschienen ist. Das Theaterstück, das Veiel 2005 zur Aufführung brachte, lief als Film im Herbst 2006 an; beides rief gleichermaßen positive Reaktionen hervor. In Leipzig wurde ebenfalls eine Dramatisierung des Textes aufgeführt, doch dazu später.

Veiel hielt es für notwendig, dem Text des Theaterstücks unter dem jargonverdächtigen Titel „Annäherungen“ eine lange Erklärung anzuhängen. Grundlage von Veiels Arbeit sind dabei die Gerichts- und Vernehmungsprotokolle, Interviews, Berichte und Akten. Anders als im Stück, wo die einzelnen Passagen – Aussagen der drei Täter selbst sowie über sie und ihr Opfer – nicht bestimmten Beteiligten zugeordnet werden konnten, sind hier die Namen genannt. So stellt Veiel die Eindeutigkeit, die er dem eigenen Bekunden nach mit Stück und Film habe erschüttern wollen, wieder her. Veiel begründete die Inszenierung des Falls sogar damit, daß er einen der Täter nicht mit seinem Hakenkreuz-Tattoo hatte zeigen wollen, um nicht gleich Vorurteile zu provozieren. Es sei unmöglich gewesen in Potzlow zu filmen, er sei auf eine Mauer des Schweigens gestoßen, die er nur habe durchbrechen können, wenn er die Protagonisten nicht abfilmen und einer übel wollenden Öffentlichkeit zum Fraß vorwerfen würde, so Veiels Rechtfertigung.

Veiel interessiert sich in erster Linie für die Täter und ihr Umfeld; seine „Annäherungen“ zeugen davon, dass der Autor sich des schmalen Grads zwischen Verständnis und Rechtfertigung durchaus bewusst ist. Die Biographien der Täter lassen Furchtbares erahnen – selbstverständlich sind alle von ihnen schon einmal selbst Opfer gewesen, und gleich zwei von ihnen haben, nachdem sich der rumänische Verlobte der gemeinsamen Schwester als Sozialhilfebetrüger herausgestellt hat und des Diebstahls verdächtigt wird, sogar einen wirklich subjektiven Anlass zu Rassismus, wie im Buch suggeriert wird. Diese Geschichte erzählt Veiel allen Ernstes und ohne jeden Kommentar; zugleich enthüllt die Sachlichkeit der Schilderung das Unfassbare des Geschehens. Die Gewalt, die sich gegen ein zufällig ausgesuchtes Opfer richtet, das seine Erniedrigung in der Hoffnung erträgt, danach wieder in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden, ist alltäglich in Potzlow. Es ist übrigens die Mutter der Geschwister, die den rumänischen Verlobten am Ende denunziert.

Veiel merkt selbst, dass die Individualisierung mangels Individualität von Tätern und Motivlage nichts bringt, so stereotyp lesen sich diese kurzen Abrisse. Aber nicht das Opfer, sondern einer der Täter steht am Anfang der „Annäherungen“, am Ende Marinus, dessen Biographie sich durch ein merkwürdiges Detail von denen seiner Mörder unterscheidet. Diese werden durchweg als eigentlich ganz liebe Jungs, die nur anerkannt werden wollten, beschrieben, die höchstens mal im Suff durchdrehen und sich nur in der Gruppe stark fühlen. Auch Marinus besäuft sich früh, hat Probleme in der Schule, klaut einmal ein Moped, fährt das andere Mal ohne Führerschein Auto, aber er hat mit Gewalt nichts am Hut. Seine Mörder hingegen sind von früher Kindheit an mit Gewalt konfrontiert, sie als Opfer und Täter zu erleben, ist sozusagen normal; genau das fehlt bei Marinus, und dies scheint die Differenz gewesen zu sein, die ihn in den Augen seiner Mörder zum Opfer bestimmte. In den Stunden, in denen sie Marinus quälten, ging es ihnen fortwährend darum, dass dieser sagen sollte: „Ich bin Jude“. Als er dies schließlich unter Androhung von Schlägen tat, sprach er sein eigenes Todesurteil aus.

Wie kamen sie dazu, eine solche Tat zu verüben? fragt Veiel sich, sein Befund: Brutalisierung, verkorkste Familienverhältnisse, Alkohol, aber vor allem anderen „Langeweile“. Veiels Sachlichkeit entbehrt an dieser Stelle der notwendigen Kälte – wenn die Täter und ihr Umfeld von „Langeweile“ sprechen, ist das keine Klage über mangelnde Beschäftigungsmöglichkeiten, sondern die Projektion der Leere im eigenen Innern aufs gesellschaftliche Außen. Weil Veiel sich deswegen den Tätern nicht wirklich nähern kann – es hätten auch andere sein können, ihre Tat hat nichts subjektives –, verlegt er sich auf soziologische Erklärungsmuster und vermeidet so die „Annäherung“ an die beunruhigenden und unheimlichen Aspekte seiner Recherche. Wenn Veiel diesen gesellschaftlichen Zustand in seinem Kommentar auf ein „Wertevakuum“ zurückführt, das er in Potzlow festgestellt haben will, und sich selbst in abgeschmacktem Jargon lobt, indem er behauptet, „auf einfache Erklärungs- und damit auch Lösungsansätze“ verzichtet zu haben, dementiert er sogar die eigenen, niederschmetternden empirischen Befunde.

Veiel will die Banalität der Gewalt skandalisieren, er banalisiert jedoch den Skandal der Gewalt. Er spricht verniedlichend von „Jugendgewalt“ anstatt von Gewaltverhältnissen, in denen die Jungen früh lernen müssen, sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen. Gewaltfetischismus und das Recht des Stärkeren, die Unterwerfung unters Kollektiv und nationalsozialistische Ideologieversatzstücke sind eben auch Werte. Diese Erkenntnis will Veiel um jeden Preis vermeiden. Seine Einsichten in einen gesellschaftlichen Zustand zwischen Bruderhorde und autoritärer Sehnsucht sind so tatsächlich in ein Vakuum verpackt, und vom brutalen Mord bleibt nur die Faszination der Gewalt.

Die Regisseurin Tamara Milosevic wirft in ihrem Film „Zur falschen Zeit am falschen Ort“ einen anderen Blick auf die Potzlower Zustände. Die Gewalt ist Alltag, die Leute in Potzlow tun nicht nur so abgeklärt, sie sind so, es gibt keine Erkenntnisebene, die unter der Erscheinungsebene liegt. Sie besuchte im Som¬mer 2004 über den Zeitraum eines halben Jahres Potzlow und beo¬bachtete das Biotop, in dem Marinus Schöbel nicht überlebt hat. Der Film zeigt in strenger Dramaturgie den Alltag von Leuten, die keinen Alltag mehr haben. Alt und Jung sitzen beisammen und kiffen und trinken und trinken und kiffen. Im Vergleich zur Leipziger Inszenierung und Veiels Buch stand im Conne-Island-Newsflyer im vergangenen Jahr über Milosevics Film zu lesen: „War in Tamara Milosevics Film die Identifizierung mit Matthias Muchow (Marinus' bester Freund – er grub dessen Leiche aus) möglich, der scheinbar als einziger Potzlower Empathie mit dem Opfer zeigte und gegen die Ignoranz von Dorfgemeinschaft und eigener Familie versuchte, nach Gründen zu fragen, so wird ein solcher, eine gewisse Sicherheit gebender, Rückzug dem Zuschauer des ‚Kick’ nicht gewährt.“

Stimmt diese Behauptung? Zum einen ist es ja nicht so, dass die angeblich nach Identifikation lechzenden Zuschauer massenweise in Milosevics Film rannten, sondern Veiels Rationalisierungen Erfolg hatten; zum anderen ist angesichts des Films, den Sie gleich sehen werden, tatsächlich die Frage, ob eine Identifizierung mit Matthias Muchow dem Zuschauer einen eine gewisse Sicherheit gebenden Rückzug ermöglicht. Umgekehrt scheint es mir eher so zu sein, dass die Distanz, die Veiel zum Opfer aufbaut, jener Dramaturgie der Kälte folgt, mit der seit jeher das Schicksal von Opfern deutscher Verbrechen inszeniert wird, und die fortwährende Frage nach den Tätern eine Subjektivierung herstellt, die eben nicht aufs Gesellschaftliche verweist. Gerade so wird das ostdeutsche Bedürfnis, sich als Opfer zu fühlen, bedient; denn nicht die sozialen Verhältnisse, die die Leute selbst gestalten, geraten so ins Zentrum, sondern die Unfähigkeit der einzelnen, diese Verhältnisse zu gestalten.

Tamara Milosevic verweist hingegen auf die Verantwortlichkeit jener einzelnen, eben weil sie eine Person, die nicht dazu gehört, in den Mittelpunkt stellt. Potzlow funktioniert so: Wenn es allzu langweilig wird, wird einer zum Opfer be¬stimmt und erniedrigt. Zwei solcher Szenen zeigt Milosevic in nervenzehrender Ausführlichkeit. Ein alkoho¬lisierter Mann wird auf einer Gartenparty – man sitzt draußen und betrinkt sich – von den anderen gehänselt, gedemütigt und in einen See geschubst. „Irgendwann ist jeder mal dran“, beschwichtigt der Mann, der viel zu betrunken ist, um sich zu wehren. Es sind solche Szenen, die eine leise Ahnung davon vermitteln, welch mörderisches Potenzial dieser Gruppe innewohnt. Man kann sich vorstellen, dass die Kamera dieser Quälerei ein Ende setzt, man kann sich aber genau so gut vorstellen, dass auch vor der Kamera noch einmal jemand getötet werden könnte.

Wie soll man diese Gruppe von Menschen, die von einem eben so eloquenten wie von sich selbst überzeugten Führer – dem Vater von Matthias, des besten Freunds von Marinus – zusammengehalten wird, nennen? Ein Racket? Dazu ist die Gruppe zu desorganisiert. Eine Clique? Es fehlen das gemeinsame Interesse und der Generationenzusammenhang. Eine Bande vielleicht, aber es fehlt die kriminelle – wie auch jede andere – Ener¬gie. Einzig die Führerfigur ist dynamisch in jeder Situation: wenn er andere erniedrigt, wenn er (als einer der wenigen Arbeitgeber im Dorf) den anderen bei der Arbeit zusieht, wenn er vor der Kamera die Welt erklärt und über das Verhalten seines Sohnes, der ihn enttäuscht habe, schwadroniert. Sein Sohn Matthias war der beste Freund von Marinus, er war es auch, der Monate nach der Tat dessen verscharrte Leiche entdeckte, sie ausgrub und die Polizei verständigte. Er ist der einzige, der im Film gut über das Opfer spricht. Er ist nach der Entdeckung der Tat selbst zum Opfer geworden. Er gilt als „Verräter“, weil er die Polizei gerufen hat, er gilt als Schwächling, weil er der Ausgrenzung nicht standhielt und in eine schwere Depression verfiel. Tamara Milosevic ergreift in dem Film eindeutig Partei für ihn, ist er doch der einzige, der nachdenkt und Gedanken in Worte fassen kann.

Wenn Matthias voller Zuneigung über seinen ermordeten Freund spricht, fällt auf, dass zum ersten Mal etwas über den Ermordeten berichtet wird, das nicht die Sicht der Täter auf ihr Opfer spiegelt. Matthias begreift bis heute nicht, was mit ihm selbst geschehen ist. Es ist qualvoll, diesem sehr jungen, schon schwer gezeichneten Menschen zuzusehen, der sich alle möglichen Fragen stellt, auch wenn diese sehr einfach, beinahe naiv wirken. Matthias’ Rolle ist die des geduldeten Außenseiters. Dafür sorgt nicht zuletzt sein Vater, der dem Sohn vorwirft, es sich im Schmerz um den ermordeten Freund bequem gemacht zu haben. Eine Identifizierung im Sinne des Auf-der-richtigen-Seite-stehens verbietet sich, denn Matthias ist nicht in der Lage, sich zu wehren: Das verkennt der oben zitierte schlaue Kritiker aus Leipzig. Und mehr noch spricht die Verweigerung der Empathie für Matthias und die Sehnsucht nach der Abstraktion von den konkreten Verhältnissen für jene Antifa-Haltung, die nicht zur Kenntnis nehmen will, dass die Subjektivität der Täter eine Fiktion ist. Der Versuch, den auch Veiel macht und für den er Anerkennung erhält, besteht darin, den Mord an Marinus Schöbel in jene Logik einzuordnen, aus der er eben heraus sticht, weswegen er sehr viel besser Auskunft geben kann über das ostdeutsche Elend, das solche Taten hervorbringt.

Und worin besteht dieses Elend? Wahrscheinlich ist der Begriff der Horde die passende Bezeichnung für diese Gruppe, die im Film präsentiert wird. Horde im Sinne eines Rudiments menschlicher Gesellschaft, in der das Gesetz des Vaters so absolut wie willkürlich ist und alle Beziehungen der Menschen untereinander über den Vater vermittelt sind. Damit ist ei¬ne Schwundstufe der modernen Gesellschaft erreicht, in der Zeit, Generation und jede abstrakte Vermittlung von Herr¬schaft – und sei es durch die Religion – verloren gegangen sind. Geschichte ist hier abgeschafft; hier hat sich über Jahrhunderte, über Gesellschaftssysteme und Eigentumsverhältnisse, die kamen und gingen, kaum etwas verändert. Das jeweilige Opfer ist die Bestätigung der Macht des Vaters – und auffällig ist die Unfähigkeit aller Protagonisten, auch von Matthias, zur befreienden Rebellion, zum Vatermord, dessen nicht nur symbolische Notwendigkeit der Vaterführer im Film aufzeigt. Es ist jene allgemeine Form der gesellschaftlichen Regression, die in anderen Weltgegenden Suicidebomber und islamistischen Wahn hervorbringt.



Tjark Kunstreich

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