Freitag, 29. August 2008

Jan Gerber: Meine Kuh, meine Scholle, mein Block. Über den »Standortfaktor Heimatbindung«

Jan Gerber hat uns freundlicherweise seinen mittlerweile in überarbeiteter Form in der aktuellen Bahamas erschienenen Text "Meine Kuh, meine Scholle, mein Block. Über den »Standortfaktor Heimatbindung«" zu Verfügung gestellt. Der Text basiert auf dem von ihm am 23.1. gehaltenen Referat im Rahmen der Reihe "Die Barbarei des flachen Landes".

Die anschliessender Podiumsdiskussion hatte eine Reihe interessanter Reaktionen zur Folge, der Hallenser Radiosender "Corax" strahlte zum gleichen Thema diesen Beitrag von Anja Worm aus.



Jan Gerber
Meine Kuh, meine Scholle, mein Block. Über den »Standortfaktor Heimatbindung«

In: Bahamas 55/2008



»When you’re growing up in a small town

You know you’ll grow down in a small town

There’s only one good use for a small town

You hate it and you know you’ll have to leave«

(Lou Reed)

Wer Sam Peckinpahs Film »Straw Dogs« kennt, weiß alles, was er über das Leben auf dem flachen Land wissen muss: Der Amerikaner David Sumner, gespielt von Dustin Hofmann, und seine Frau Amy (Susan George) ziehen in einen kleinen Ort im englischen Cornwall. [1] Hier suchen sie die Ruhe und Idylle, die es dem Astro-Mathematiker David ermöglichen sollen, seine Doktorarbeit zu schreiben. Diese Idylle erweist sich jedoch als reine Hölle. Angesichts der Langeweile, der kargen Landschaft, des schlechten Wetters und der allgemeinen Trostlosigkeit beginnen die Frischverheirateten nicht nur, sich gegenseitig zu schikanieren. Auch die Einheimischen, die untereinander zu keiner freundschaftlichen Bindung fähig zu sein scheinen, versprechen sich von ihren neuen Nachbarn Abwechslung zu ihrem tristen Alltag. Aus der distanzierten Feindseligkeit, die den beiden überall entgegenschlägt, wird schnell offene Aggression: Eine Gruppe Ureinwohner treibt David »aus Spaß« mit dem Auto von der Straße, tötet die Katze der Sumners und hängt sie in deren Schlafzimmerschrank. Während David bei einer Jagdpartie ist, wird Amy von zwei Einheimischen vergewaltigt. Nach einem ländlichen Kulturabend greift eine Horde Betrunkener schließlich das Haus der Sumners an. Der Grund: Sie beherbergen den Aussätzigen des Ortes, einen verstörten jungen Mann, der verdächtigt wird, ein Mädchen entführt und vergewaltigt zu haben, und weigern sich, ihn der Meute auszuliefern. Dieser Grund ist jedoch bald vergessen. Einer derjenigen, die auf der Jagd nach dem vermeintlichen Vergewaltiger sind, fällt nach dem Sturm auf das Haus der Sumners zunächst über Amy her; ein anderer hält ihn gewaltsam davon ab, weil er sie für seine eigene Beute hält. Selbst für David scheint es wichtiger zu sein, dass sein Revier verletzt wird, als dass jemand gelyncht werden soll. So postuliert er nicht nur pathetisch – und nur kurz nachdem er Amy gedroht hat, ihr den Arm zu brechen, wenn sie ihm nicht gehorche –, dass er »keine Gewalt in diesem Haus« dulden wolle. Nachdem er sämtliche Angreifer getötet hat, erklärt er darüber hinaus in einer Mischung aus Stolz und Fassungslosigkeit: »Oh mein Gott, alle habe ich sie erledigt.«

Peckinpahs Film, der trotz seines Handlungsortes und seiner Handlungszeit in den frühen 1970er Jahren immer wieder als Western bezeichnet wird, ist tatsächlich ein Abgesang auf das Western-Genre: Die »bad guys« sind zwar noch immer böse, die »good guys« sind allerdings nicht mehr wirklich gut. Gleichzeitig denunziert Peckinpah die Harmonievorstellungen der klassischen Westernregisseure: In den stilbildenden Filmen John Fords oder John Hustons werden die Kleinstadt, die einsame Farm oder die Ranch in der Regel als Orte der Harmonie dargestellt; Gefahr droht stets von außerhalb: von Indianern, Aussätzigen oder Fremden. Mit »Straw Dogs« rückt Peckinpah diese Vorstellungen zurecht und präsentiert die kleinen Gemeinschaften, die Einsamkeit und Trostlosigkeit des Landlebens als Hort von Brutalität, Aggression und Dummheit.

Der Idiotismus des Landlebens

Tatsächlich gehört keine große Phantasie dazu, die Handlung von »The Siege of Trencher’s Farm«, so der Titel des Romans, auf dem der Film basiert, in eine x-beliebige Kleinstadt zu verlegen; Peckinpah beschreibt Zustände, die in nur leicht abgeschwächter Form fast überall auf dem flachen Land – dort, wo kein einziges Gebäude den Kirchturm überragt – vorstellbar sind: Die Nähe zur Natur hat die Menschen hart und verbittert gemacht; ihre Freizeit basiert auf der Pflege eines festen Kanons barbarischer Rituale; und die eingeschränkten Sozialkontakte produzieren schon in jungen Jahren die boshafte Wunderlichkeit, die man sonst nur aus dem Altersheim kennt. In diesen Gegenden: in Peckinpahs Dorf im Cornwall ebenso wie in den langsam deindustrialisierten Klein- und Mittelstädten der Magdeburger Börde, des Elbe-Saale-Winkels oder Brandenburgs, scheint es so, als wären die vermittelten Herrschaftsverhältnisse des Kapitalismus nie richtig angekommen zu sein. Je kleiner der Ort ist, umso größer scheint der Bogen zu sein, den das abstrakte Recht und die Vermittlung über den Markt um ihn gemacht haben. Das archaische Recht des Stärkeren lebt hier nicht, wie von Marx für die bürgerliche Gesellschaft in ihrem goldenen Zeitalter – und gegen ihre politischen Ökonomen – festgestellt wurde, unter der Oberfläche bzw. »unter andrer Form« fort. (MEW 43: 23) Es kommt vielmehr unverstellt zum Vorschein. Hier wird Kleidung weniger als Frage von Ästhetik und Stil behandelt, sondern soll ausschließlich vor Wind und Wetter schützen. Essen scheint weniger dem Genuss als dem Kampf gegen die Angst vor dem Verhungern zu dienen. Und auch mit einer Hochzeit wird oft ausschließlich der Zweck verfolgt, dem vergrößerten Acker jemanden zu verschaffen, der ihn in Zukunft pflügt, düngt und aberntet. Selbst der Generationenkonflikt, in dem einmal der Gedanke an einen Ausbruch aus dem Kontinuum Schule-Arbeit-Tod aufgehoben war, findet, wenn überhaupt, lediglich als Auseinandersetzung ums Erbe statt. Aufgrund der frühzeitigen Integration in die Bestellung des elterlichen Hofes oder – weitaus häufiger – die Strategien der Alten, ihre Zeit totzuschlagen, überspringen die Heranwachsenden die Phase des Ekels vor den Eltern und ihrem Leben in der Regel: Alt und jung sitzen an den gleichen Orten (Marktplatz, Tankstelle, Buswartehäuschen usw.) zusammen, spielen Karten, rauchen, trinken, demütigen sich und warten auf die Abwechslung, die doch nicht kommt.

Die Freunde des Landlebens

Es spricht also durchaus einiges dafür, diese Gegenden zu meiden und sich darüber zu freuen, dass es immer mehr Menschen gibt, die sie verlassen. Statt denjenigen allerdings zu gratulieren, die es schaffen, dem »Ozean von Demenz und Armut«, von dem die Süddeutsche Zeitung spricht (SZ vom 7. August 2003), den Rücken zu kehren, kann sich vor allem das Feuilleton kaum etwas schlimmeres vorstellen als »schrumpfende Städte«, »verlassene Dörfer« und das »Sterben« von Regionen, die der Welt nichts außer Grützwurst und Bregensuppe gebracht haben. Die immer wieder erhobene Behauptung, dass diese Schrumpfregionen und ihre Bewohner keine Lobby haben, wird dabei allein schon dadurch dementiert, dass sie immer wieder erhoben wird. So wird seit Jahren nicht nur im Hallischen Amtsblatt, im Merseburger Stadtanzeiger oder auf Dessau TV, sondern auch im Spiegel, in der Frankfurter Rundschau, der Zeit und in Büchern und Ausstellungen, die von der Kulturstiftung des Bundes finanziert werden [2], über Deurbanisierungsprozesse und »Entvölkerung« lamentiert. Ganze Berufsgruppen sind damit beschäftigt, die Abwanderung aus den ost- und westdeutschen Abbruchgebieten zu stoppen und die Einheimischen zum Bleiben zu bewegen.

Bis in die 1990er Jahre waren vor allem Ökonomen und die Mitarbeiter von Gewerbeämtern und Wirtschaftsdezernaten dafür zuständig, die weitere Flucht aus »schrumpfenden Städten« und »sterbenden Dörfern« zu verhindern. Ihre Parole hieß »Arbeitsplätze schaffen!«; die brachliegenden Gewerbegebiete, die nach 1990 in jedem zweiten ostdeutschen Kaff erschlossen wurden, sind die traurigen Denkmäler ihrer Tätigkeit. Inzwischen stehen hauptberufliche und ehrenamtliche Stadtplaner, Raumordner, Raumpioniere, Grünplaner und Landschaftsarchitekten an vorderster Front im Kampf um »sterbende Städte« und Regionen. Diese Verschiebung der Zuständigkeiten auf diejenigen, die berufsmäßig mit Hecken, Wanderwegen, Grünflächen, Fachwerk und Bodennutzung beschäftigt sind, zeigt, dass es kaum noch jemanden gibt, der daran glaubt, dass sich Industrie in den ost- oder westdeutschen Abbruchgebieten ansiedeln wird. Der Stadtkämmerer von Bremerhaven, einem Ort, der pro Jahr 2.000 Einwohner verliert, ist einer der Wenigen, die die Situation nicht nur hinter vorgehaltener Hand richtig einschätzen: »Die Chance auf Ansiedlung eines Großbetriebs«, so erklärte er gegenüber dem Hamburger Abendblatt, »ist etwa so groß wie auf einen Sechser im Lotto.« (Hamburger Abendblatt vom 18. November 2004) Dieses allgemein vorhandene, allerdings nur selten artikulierte Wissen spiegelt sich auch in zahlreichen Konzepten von Stadt- und Raumplanern wider: So wurde für einige ostdeutsche Städte bereits über eine »temporäre innerstädtische Landwirtschaft« (Gemüse, Obst usw.) diskutiert; bei einer Ausstellung zum Thema »shrinking cities« wurde gefragt, warum nicht auch Kuhherden durch die »aufgelockerten Städte der Zukunft« ziehen dürften. [3] Diese Vorschläge sorgen bei öffentlichen Veranstaltungen der Branche zwar immer wieder für eine Mischung aus Amüsement und romantischer Begeisterung. Tatsächlich wird mit ihnen jedoch ein Zustand vorweggenommen, der für viele Menschen in der Dritten Welt oder in den ehemaligen Ostblockstaaten längst lebensnotwendig ist: In den Elendsregionen der Welt sind der bepflanzte Grünstreifen vor dem Haus, das »temporäre innerstädtische« Feld oder die Kuh auf dem Hinterhof die Voraussetzung dafür, um nicht zu verhungern. Wenn Raumplaner vor diesem Hintergrund immer wieder mit beeindruckender Penetranz erklären, dass die zukünftigen Strukturen »auch bei knappen finanziellen Mitteln bezahlbar sein müssen« (IBA. Stadtumbau 2010 Sachsen-Anhalt) [4], ist kein großes Kombinationsvermögen nötig, um zu erkennen: Hier ist ein vorauseilendes Krisenbewusstsein am Werk, das sich schon heute um die Elendsverwaltung von morgen kümmert. Als hätte der immer wieder beschworene Zusammenbruch der Weltwirtschaft bereits stattgefunden, sollen sich die Bewohner der sterbenden Landstriche lieber wieder auf die Erzeugnisse des eigenen Gartens als auf EC-Karten und Supermärkte, die es in einigen Regionen der Altmark, Mecklenburg-Vorpommerns, Brandenburgs aber auch Schleswig-Holsteins ohnehin schon nicht mehr gibt, verlassen. Die Forderung nach Bürgerbeteiligung, die in nahezu jedem aktuellen Stadt- und Raumplanungskonzept erhoben und in vermeintlich progressiven Architekturzeitschriften gern als Aufruf zur »Selbstermächtigung« gefeiert wird [5], ist damit kaum etwas anderes als die Forderung nach Elendsselbstverwaltung. Die Menschen tauchen in diesen vorauseilenden Krisenbewältigungskonzepten nicht einmal mehr als Arbeitskraftbehälter auf. Sie erscheinen nur noch als Anhängsel von Landschaft, Region und Natur: So schlugen Studenten des Instituts für Landschaftsarchitektur der Technischen Universität Berlin der Stadt Dessau vor, in den neuen innerstädtischen Grünzonen keine festen Wege zu bauen, sondern es den Anwohnern zu überlassen, Trampelpfade zu schaffen; der frühere Umweltminister Jürgen Trittin freute sich vor einigen Jahren darüber, dass seltene Tiere in die Ödländer zurückkommen und die »Koexistenz von Mensch und Wolf« (O-Ton Trittin) in bestimmten Regionen Sachsens »bereits Normalität« sei (vgl. Spiegel Online vom 20. März 2006); und die nicht ganz unbekannte Stiftung Trias (stiftung-trias.de) die nahezu bundesweit Projekte eines so genannten »neuen Wohnens« fördert, nennt »Jugend- und Naturschutzarbeit« immer wieder in einem Atemzug. Wenn sie sich darüber hinaus als Stiftung für »Boden, Ökologie und Wohnen« bezeichnet, machen allein der Kontext (»Boden« und »Ökologie«) und die Stellung des Begriffs »Wohnen« in diesem Kontext (Rang drei) noch einmal deutlich: Das Dahinvegetieren in den langsam renaturisierten Zonen gilt nicht mehr als soziales oder ökonomisches, sondern allenfalls als forstwirtschaftlich-ökologisches Problem.

Heimatliebe

Zu dieser Einordnung der Menschen in die regionale Fauna passt auch der neueste Schlachtruf von Stadtplanern, Raumpionieren und Kollegen. Er heißt: regionale Identität. Mit Hilfe von regionaler Identität, Heimatbindung und Heimatverbundenheit sollen die Bewohner der Abbruchgebiete dazu animiert werden, trotz fehlender Industrie, Buchläden, Postämter, Schulen und medizinischer Versorgung – in einigen Gegenden der Uckermark müssen Patienten 60 Kilometer bis zur nächsten Arztpraxis fahren (vgl. Spiegel Online vom 15. März 2006) – im Ödland auszuharren. Diese Agitation für die heimatliche Scholle basiert nicht nur auf dem Versuch einer krisengeschüttelten Branche, sich am 2,7-Milliarden-Euro-Topf des Bund-Länder-Programms Stadtumbau Ost, aus dessen Mitteln die Mehrheit der ostdeutschen Planungsbüros finanziert werden dürfte, zu regenerieren. Die Verweise auf das ehrenamtliche Engagement in Heimatvereinen und Initiativen zur Stärkung regionaler Identität, ohne die kaum ein Internetauftritt eines Planungsbüros auskommt [6], signalisieren vielmehr, dass es sich bei der Heimatliebe um eine Herzensangelegenheit von Stadt- und Raumplanern, Raumpionieren und Landschaftsarchitekten handelt. Diese Herzensangelegenheit ist allerdings keine alleinige Domäne dieser Berufsgruppe. Das Verlangen nach einer Stärkung regionaler Identität, von Heimatbindung oder Heimatverbundenheit vereint die Branche vielmehr mit Kulturarbeitern, Medienschaffenden und dem hiesigen Allparteienkartell: In Chemnitz fand im Herbst 2007 eine 40teilige Veranstaltungsreihe statt, bei der vom Schauspieler Jan Josef Liefers über Gerd Ruge bis hin zum unvermeidlichen Doppelgespann Norbert Blüm und Peter Sodann jeder auftreten durfte, der sich affirmativ zum Begriff »Heimat«, dem Titel der Reihe, äußern wollte. Der Regisseur Edgar Reitz wird aufgrund seiner »Heimat-Trilogie« (1980-2004), eines 52stündigen Monumentalwerks über den Hunsrück, in dem der Regisseur seine »Sehnsucht nach Heimat« (Spiegel vom 1. Oktober 1984) auslebt, noch immer mit Ehrungen (Adolf-Grimme-Preis, Ehrendoktorwürden, Bundesverdienstkreuz usw.) überhäuft. Und auch der mecklenburgische Ministerpräsident Harald Ringstorff (SPD), Bildungsministerin Anette Schavan (CDU) und Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) halten Heimatgefühl und Heimatverbundenheit für »wichtig« (Ringstorff), für eine »Zukunftsgarantie für unser Land« (Schavan) bzw. für den »wesentlichen Motor« (Gabriel) des so wichtigen Natur- und Umweltschutzes. [7]

Im diesem kollektiven Verlangen nach einer Stärkung von Heimatverbundenheit und regionaler Identität verschmelzen mindestens zwei Dinge miteinander:

1. das Wissen, dass es in den entsprechenden Regionen nahezu unerträglich ist. Wer sich in einer bestimmten Gegend wohl fühlt, hat es weder nötig, diesen Ort durch das repressive Wort »Heimat« zu denunzieren noch muss er sein Bleiben mit Begrifflichkeiten wie »regionale Identität«, »Heimatverbundenheit« oder »Heimatbindung« überhöhen. Wer permanent an die Liebe zur Heimat appelliert, scheint zu ahnen, dass es kaum etwas anderes gibt, das die Menschen in der Region zu halten vermag. Hinter der permanenten Versicherung der eigenen Heimatverbundenheit dürfte insofern der Drang stehen, die eigene Scholle endlich zu verlassen. »Heimatverbundenheit«, »Heimatliebe« und ihr modernes Pendant »regionale Identität« sind mit anderen Worten Formeln, mit denen zunächst die eigenen Fluchtreflexe bekämpft werden sollen. Ganz in diesem Sinn hatten die Protagonisten der ersten deutschen Heimatbewegung – die Volkslied-, Volkskunst- und Heimatfreunde des frühen 20. Jahrhunderts – 1914 nichts besseres zu tun, als begeistert in die Züge zu steigen, die sie nach Flandern, Russland oder in Richtung Paris bringen sollten. Der Heimatfilmboom der 1950er und frühen 1960er Jahre wurde von den Reise- und Fernwehfilmen Freddy Quinns (»Freddy und das Lied der Südsee«, »Freddy unter fremden Sternen« usw.) begleitet. Und auch die aktuelle Heimatwelle kommt nicht ohne die Sehnsucht nach der Ferne aus: So sind Angaben der Zeitschrift Bücher zufolge zwar 65 Prozent der Landsleute der Meinung, dass die Deutschen ruhig stolzer auf »ihr Land« sein sollten. Dennoch scheint sie nicht allzu viel in der geliebten Heimat zu halten: 76 Prozent der Befragten beantworteten die Frage, ob sie auch in einem andern Land als Deutschland arbeiten würden, mit einem eindeutigen »Ja«. (vgl. Bücher 2/2008)

2. das Wissen, dass es auch bei großer Anstrengung nicht so einfach ist, den Ort der eigenen Verdummung nicht nur zu verlassen, sondern anderswo auch noch sein Glück zu finden. Wolfgang Pohrt bezeichnete Heimatverbundenheit dementsprechend vor vielen Jahren als »schönfärberische Umschreibung der Unfähigkeit einer Branche, beim internationalen Konkurrenzkampf mitzuhalten«. [8] Diese Aussage, die noch immer nichts von ihrer Richtigkeit verloren hat, gilt sowohl für die Wirtschaftszweige, die früher überdurchschnittlich oft in den inzwischen sterbenden Städten und Regionen angesiedelt waren: Landwirtschaft, Bergbau und Schwerindustrie. Und sie gilt auch für die Branche, deren Vertreter neben den Protagonisten des notorischen Kulturbetriebs derzeit zu den umtriebigsten Propagandisten »regionaler Identität« gehören – und die sich laut Auskunft ihrer Verbände seit Jahren in der Krise befinden [9]: für Architektur, Stadt- und Raumplanung. So muss man kein Architekt oder Landschaftsgestalter sein, um zu wissen, dass zukünftige Architekturstudenten oder Landschaftsgestalter nicht von Wurzen, Weißwasser oder dem Landschaftsschutzgebiet Goitzsche bei Bitterfeld träumen, sondern von New York, Skidmore, Owings and Merrill in Chicago oder dem Monument Valley. Und man muss keine große Ahnung von Schwermaschinenbau, Bergbau, Ackerbau und Viehzucht zu haben, um zu wissen, dass arbeitslose Mähdrescherfahrer, Stahlbauer und Tagebau-Arbeiter in ihrer Kindheit keine arbeitslosen Mähdrescherfahrer, Stahlbauer und Tagebau-Arbeiter werden wollten, sondern Astronauten, Cowboys, Detektive, Piloten oder ähnliches. Es ist nie leicht, sich von den Illusionen einer hoffnungsfrohen Kindheit zu verabschieden und zu realisieren, aufgrund eigener Unzulänglichkeiten oder der viel häufigeren unglücklichen Zufälle nicht das zu bekommen, was man nach eigener Ansicht verdient.

Die Mittel, mit denen die damit verbundenen Selbstzweifel, die Versagungen und die Borniertheit, die etwa nötig ist, um auch mit Mitte Dreißig noch jeden Tag an die dörfliche Bushaltestelle zu gehen und sich dort frustriert zu betrinken, anstatt in den Bus zu steigen und den Ort der eigenen Verdummung ein für alle Mal zu verlassen, kompensiert werden können, sind Heimatverbundenheit und regionale Identität. Mit Hilfe von Heimatverbundenheit, regionaler Identität und Heimatbindung können sich die Ambitionierten und Verhinderten darüber hinwegtrösten, dass sie, anstatt bei Peter Eisenman in New York zu arbeiten, als verkannte Genies in einem Einmannunternehmen in Greitz versauern; mit ihrer Hilfe können Dummheit und Bequemlichkeit in tiefe Treue und Liebe zu Feld, Wald und Wiesen umgelogen werden; und mit ihrer Hilfe kann aus der Not der ländlichen Enge die vermeintliche Tugend des einfachen Lebens, der sauberen Luft und der Nähe zur Natur gemacht werden. Der Lokalpatriotismus, der aus Heimatbindung und regionaler Identität folgt, ist darum nicht nur umso stärker, je weniger Berechtigung für ihn besteht. Er ist auch umso nötiger, je weniger Anknüpfungspunkte er in der Realität hat. Je trostloser die Scholle ist, auf der die Daheimgebliebenen bei Wind, Wetter und Dosenbier vor sich hinvegetieren, umso stärker muss sich der Stolz auf sie äußern.

Standortfaktor Verfolgung

Der Trost, den Heimatverbundenheit und regionale Identität spenden, liegt allerdings weniger in der besinnlich-harmonischen Pflege tatsächlicher und vermeintlicher Traditionen. Wer einmal längere Zeit auf dem flachen Land ausharren musste, weiß, dass sich die versprochene Harmonie nicht einstellt. Die Einheimischen scheinen kaum jemanden so sehr zu hassen, wie ihre Nachbarn, Freunde und Mitbewohner; sie ertragen sich und ihre Traditionen: das jährliche Ringreiten, das Schützenfest oder den Karnevalsumzug, nur mit Unmengen Alkohol.

Die Loblieder auf Blut und Boden – eine etwas aus der Mode gekommene Bezeichnung für regionale Identität – sind dementsprechend keine Liebeserklärungen an Land und Leute. Sie sind, und das hat nicht zuletzt die Geschichte gezeigt, vielmehr die Kampfansage ans Fremde. Hinter der Begeisterung fürs Kollektiv, für Gemeinschaftsarbeit und das kollektive Zupacken steht immer schon die Aggression gegen diejenigen, die nicht mitmachen wollen oder sollen: Wer einen Verein aufmacht, legt nicht nur fest, wen er aufnimmt, sondern auch, wen er ausschließen darf. So basierte bekanntlich bereits der Heimatfilm der 1950er Jahre, der noch immer als Sinnbild von Friedfertigkeit und Idylle gilt, stets darauf, dass derjenige, der diese Idylle stört, gesucht, gejagt und schließlich zur Strecke gebracht wird: der Wilderer, der Schmuggler oder, wie im »Fischer vom Heiligensee«, der fiese Gutsverwalter, der das Geld für die Reparatur des Staudamms unterschlagen hat.

Hinter dem Bekenntnis zur Heimat verbirgt sich damit das Versprechen, sich beim Heimatfest für die eigenen Entbehrungen und Versagungen, für das Ertragen von Karnevalsumzügen oder der immergleichen Geschichten derjenigen, die man Abend für Abend an der Tankstelle oder bei der örtlichen Honoratiorenversammlung trifft, entschädigt zu werden. Ganz in diesem Sinn gilt ein solches Fest – und auch das dürfte jeder wissen, der einmal zu späterer Stunde bei einer Kirmes oder einem Schützenfest war – erst dann als gelungen, wenn jemand gedemütigt, gequält und durch den Ort getrieben werden kann. So ist es in Peckinpahs »Straw Dogs«; so war es vor ein paar Monaten im sächsischen Mügeln, wo sich auf dem Stadtfest ein Mob von 50 Leuten zusammenfand, sieben Inder durch den Ort prügelte und schließlich unter allgemeinem Beifall die Scheiben ihrer Pizzeria einwarf; und so war es auch im Sommer 2000 in Dessau, als ein paar Jugendliche aus dem benachbarten Wolfen auf einen Zug warteten, nach eigenen Angaben »ein bisschen feiern« wollten und schließlich Alberto Adriano im Stadtpark ermordeten.

Wenn es gegen Fremde, gegen Urlauber oder die neuen Nachbarn geht, die dem Großstadtleben entfliehen wollen und auf dem Land die Idylle suchen, die es dort nicht gibt, dann verbünden sich selbst Sippen, die seit Generationen verfeindet sind. Das gemeinschaftsstiftende Moment ist der Hass auf diejenigen, die allein durch ihre Hautfarbe, durch ihren Akzent oder einfach durch ihr Nummernschild zeigen, dass sie auch etwas anderes als das Dörfchen im Cornwall bei Peckinpah, als Mügeln, Dessau oder Wolfen kennen. Nur hier, nur in der Verfolgung Gemeinschaftsfremder, kommt die Gemeinschaft zu sich; nur hier wird regionale Identität tatsächlich und vollkommen verwirklicht. Die Forderung nach der Stärkung von Heimatbindung, die von Stadt-, Raum- und Landschaftsplanern regelmäßig erhoben wird, ist mit anderen Worten nichts anderes als die Affirmation der ländlichen Barbarei; sie läuft auf nichts anderes hinaus als auf Mord und Totschlag.

Das Dorf in der Stadt

Das Gegenteil dieser Beihilfe zu Mord und Totschlag wäre die Beihilfe zur Flucht. [10] Die Hoffnung auf ein klein wenig Glück jenseits des Schattens der örtlichen Kirchturmspitze, die insbesondere junge Frauen aus den Abbruchgebieten fliehen lässt – die Männer harren in der Regel aus und schrauben, wie sich die Sächsische Zeitung vor einigen Jahren im grobschlächtigen Jargon des flachen Landes empörte, lieber »an ihren Mopeds herum, statt an ihrer Freundin« (Sächsische Zeitung vom 27. April 2005) –, kann allerdings nicht nur aufgrund der Tatsache, dass die ohnehin brüchige Basis des bürgerlichen Glücksversprechens beständig weiter erodiert, immer seltener erfüllt werden. Auch die Aufhebung des Unterschieds zwischen Stadt und Land, von dem die Sozialisten und Kommunisten früherer Jahrzehnte sprachen, dürfte sich inzwischen in negativer Hinsicht verwirklichen. Ebenso wie Heimatbewusstsein nie ohne heimliches Fernweh zu haben ist, scheint der Gang in die große, fremde Stadt nicht ohne die Sehnsucht nach dem sprichwörtlichen Dorf auszukommen. (In Freddy Quinns Fernweh-Filmen gab es dementsprechend stets das Heimweh-Lied, in dem von den Schwierigkeiten des Lebens »weit weg von zuhaus’«, von Geborgenheit und dem Wunsch nach Rückkehr gesungen wurde.) So erzeugen die Verzweiflung und Vereinsamung, die die moderne Welt produzieren, auch den Wunsch nach dem Dorf, sprich: nach der idealisierten Kindheit bzw. der Kindheit der Gattung, den geringen Bedürfnissen kleiner Gemeinschaften und ihren scheinbar überschau- und kontrollierbaren Konflikten. Diese Sehnsucht dürfte dabei nicht nur auf der Begeisterung für die repressive Kuhwärme des urtümlichen Lebens auf heimatlicher Scholle und die damit verbundene eigene Entmündigung beruhen. Sie scheint zugleich auf der Ahnung zu basieren, dass das ländliche Kollektiv, die weitgehend unvermittelte Herrschaft, die es ausübt, und die dörfliche Sozialkontrolle im Unterschied zur immer wieder beklagten Anonymität der Großstadt – die immerhin Privatheit ermöglicht und insofern auch die Suche nach dem Opfer erschwert –, vergleichsweise einfache Möglichkeiten bieten, sich für die Demütigungen und Entbehrungen, die das Leben unter den gegenwärtigen Bedingungen für jeden bereit hält, zu rächen.

Trotz dieser Begeisterung für das Leben jenseits des urbanen Raumes zieht es die Bewohner der Großstädte nur in Ausnahmefällen aufs Land zurück. Wer es sich leisten kann, kauft sich allerdings ein Eigenheim in einer der suburbanen Reihenhaussiedlungen. Hier wird das Leben des flachen Landes mit all seinen Revierstreitigkeiten, der gemeinschaftlichen Kontrolle des nachbarschaftlichen Rasens, der kollektiven Beobachtung der neuen Nachbarn und der Verteidigung angestammter Rechte simuliert. Doch auch in den Zentren selbst gestaltet sich das Leben zunehmend dem Leben auf dem flachen Land nach. Tatsächlich unterscheiden sich die Mitglieder der diversen Bürgerinitiativen, Kiezmilizen und Stadtteilgruppen, wie vor einiger Zeit im Ankündigungstext einer Veranstaltungsreihe in Dessau erklärt wurde, in ihrem Vorgehen kaum noch von den Bewohnern gallischer Wehrdörfer: »Die archaischen Rituale, die lange Zeit vor allem bei der Kirmes oder den Schützenfesten des flachen Landes zu beobachten waren, haben schon vor Jahren Einzug in die Großraumdiskotheken gehalten; und auch die persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse, die auf dem Land stets in Konkurrenz zur vermittelten Herrschaft des bürgerlichen Zeitalters standen, sind inzwischen auch im urbanen Raum keine Seltenheit mehr«. Die Provinz ist, so wurde dementsprechend geschlussfolgert, »gerade aufgrund ihrer Rückständigkeit zur Avantgarde der allgemeinen Entwicklung geworden«. [11] Diese Aussage ist sicherlich richtig. Allerdings gilt, und das sollte vielleicht einschränkend hinzugefügt werden, auch für das Verhältnis von Stadt und Land, was für die Beziehung zwischen Mainstream und Avantgarde immer gilt: Die Avantgarde ist ihren Nachahmern stets ein wenig voraus. Insofern gibt es nach wie vor gute Gründe, die Ödländer zu verlassen und sein Glück anderswo zu suchen.



Anmerkungen

1 Der Text ist die überarbeitete und deutlich erweiterte Fassung eines Vortrags, den ich im Januar bei einer Podiumsdiskussion mit einem Stadtplaner in Dessau (Thema: »Standortfaktor Heimatbindung«) gehalten habe.

2 So die Ausstellungen »Schrumpfende Städte« I und II, die zunächst in Halle und Berlin bzw. Leipzig gezeigt wurden und seit einiger Zeit auf Tour durch die USA, Großbritannien, Japan, Russland, Bulgarien und Italien sind, und die dazugehörigen Ausstellungskataloge: Schrumpfende Städte Bd. I und II. Hrsg. von Philipp Oswalt im Auftrag der Kulturstiftung des Bundes, Ostfildern 2005.

3 Vgl. Spiegel Online vom 20. März 2006; Ausstellung »Schrumpfende Städte I« in Halle und Berlin.

4 Internationale Bauausstallung (IBA) Stadtumbau 2010 Sachsen-Anhalt: Grundlagen (Januar 2005).

5 Vgl. kritisch dazu: Barbara Steiner: Komplizenschaft? In: Archplus 173/2005.

6 Ein Beispiel soll genügen: Die Mitarbeiter des Büros für Siedlungserneuerung, das im Dreieck zwischen Halle, Magdeburg und Leipzig als einer der Lokalmatadoren der Planungsbranche gelten kann, verweisen auf der Homepage des Büros auf durchschnittlich vier ehrenamtliche Mitgliedschaften pro Planer. Ein besonders engagierter Mitarbeiter bringt es nach Eigenangaben sogar auf sieben ehrenamtliche Mitgliedschaften. Vgl. wohnbund-beratung.de.

7 Vgl. mv-regierung.de, baden-wuerttemberg.de, bmu.de.

8 Wolfgang Pohrt: Zeitgeist, Geisterzeit. Kommentare und Essays, Berlin 1986, S. 23.

9 Vgl. etwa: Stadtplanung in der Krise? Innovations-Report vom 26. Januar 2005.

10 Wie diese Unterstützung aussehen könnte, beschrieb vor einiger Zeit eine kleine linke Gruppe aus dem sächsischen Chemnitz. An die Adresse heimattümelnder Hausbesetzer gerichtet, die die Aneignung eines leer stehenden Kaufhauses allen Ernstes als Beitrag dazu begriffen wissen wollten, die Abwanderung aus Chemnitz zu stoppen, den Ort aus der Krise zu retten und sein Image zu verbessern, erklärte sie: »Es gibt viele gute Gründe dafür, in Chemnitz ein Haus zu besetzen. Wer aus finanziellen Gründen gezwungen ist, an der hiesigen Universität zu studieren (der Ruf der Hochschule kann es ja schlecht sein), könnte dort auf Gleichgesinnte treffen, die ihm dabei helfen, das Elend der sächsischen Provinz besser zu ertragen und die Zeit bis zum Ende des Studiums und dem wünschenswerten Wegzug halbwegs unbeschadet an Körper und Geist zu überstehen. (...) Schülern könnte bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie die Schule beendet haben und endlich in eine vernünftige Stadt ziehen können, ein Zufluchtsort geboten werden, an dem sie den Zumutungen von Eltern, Lehrern, ehren- und hauptamtlichen Sozialarbeitern oder dem autoritären Rentnerehepaar von nebenan nicht ausgesetzt sind.« Aber hier leben...? Nein, danke! Flugblatt (etwa September 2007).

11 FJM/Beatclub e.V.: Die Barbarei des flachen Landes. Die Provinz zwischen Rückständigkeit und Avantgarde, in: beat-club.org.

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